Ihr wart beide zuvor beim Grimme Online Award aktiv, jetzt zum ersten Mal in der Jury „Kinder und Jugend“ des Grimme-Preises: Wie war das?
Shahrzad Golab: Für mich war das total aufregend. Im ersten Moment habe ich mich irre gefreut, weil Grimme natürlich ein sehr prestige- und auch geschichtsträchtiges Institut ist und der Grimme-Preis in der Medienlandschaft einfach eine wichtige Auszeichnung darstellt, wenn nicht sogar die wichtigste im TV-Bereich.
Dann kam die Unsicherheit. Daraufhin habe ich mit der Leiterin des Grimme-Preises, Lucia Eskes, telefoniert. Hier hat sich recht schnell herausgestellt, dass es eigentlich doch ganz gut passt, weil Kinder- und Jugendangebote sich viel im non-linearen Bereich abspielen und es in dieser Kategorie eine recht große Schnittmenge zum Digitalbereich gibt. Dazu kommt, dass die Jugendangebote bis 25 Jahre gerechnet werden, ich bin also fast noch Zielgruppe. Bei näherer Betrachtung hat es also doppelt gut gepasst.
Michael Schwertel: Für mich war es sehr verblüffend, es war bekannt und andererseits eine sehr neue Erfahrung. Der Qualitätsdiskurs in der Jury war mir bekannt, vergleichbar zu den Debatten im Grimme Online Award. Wobei ich mich sehr gefreut habe über den Austausch mit den anderen Jury-Mitgliedern, die nochmal ganz andere Perspektiven aufgemacht haben und mit großer Sachkenntnis arbeiten. Irritierend und ein bisschen fremd war aber die Fokussierung auf eine Zielgruppe, hier eben Kinder und Jugendliche. Interessant war für mich dabei dieser ‚back to the roots‘-Moment: Das zweistufige Verfahren des Grimme Online Award ist ja dem älteren Grimme-Preis entlehnt. Und ich durfte jetzt quasi nochmal an den Anfang springen und verstehen lernen, wo das Verfahren eigentlich herkommt und wie sich die Qualitätsdebatten begründen.
Seit Jahren wird „den Preisen“ ja eigentlich mit auf den Weg gegeben, dass sie in Zeiten der Medienkonvergenz zusammengelegt gehören. Könnt Ihr nach der praktischen Erfahrung in beiden Gremien da zustimmen oder würdet Ihr eher widersprechen?
Shahrzad Golab: Es gibt zwar auf jeden Fall Überschneidungen, aber trotzdem massive Unterschiede zwischen den Preisen. Schon die Einreichungen sind unterschiedlich: In der Fernsehbranche herrschen ganz andere Produktionsverhältnisse und ganz andere Budgets sind an der Tagesordnung. Beim Grimme-Preis dominieren dadurch einfach größere Anbieter, gleichzeitig muss Fernsehen – egal, wie es distribuiert wird – immer ein größeres Publikum finden. Im Netz reicht da manchmal die Nische. Zudem ist der Grimme-Preis nicht in erster Linie publizistisch orientiert, auch wenn es eine Auszeichnung für die Besondere Journalistische Leistung gibt.
Michael Schwertel: Ich kann mich da nur anschließen, die Systematik ist schon sehr unterschiedlich und die Einreichungen beim Grimme-Preis sind innerhalb ihrer Kategorien deutlich homogener, selbst wenn hier manchmal Kurzbeiträge, Spielfilme und Serien aufeinandertreffen. Daher kann man sich dann beim Grimme-Preis auch um eine Zielgruppe kümmern, also in unserem Fall Kinder und Jugendliche, und sie wie unter einem Brennglas betrachten. Aber wie sollte das auch praktisch aussehen, die Zusammenlegung der Preise? Man müsste die unterschiedlichen Bewegtbildformate plötzlich vergleichen mit publizistisch wertvollen Videospielen, die es online gibt, mit einem Podcast oder einer Webseite. Das fällt beim Grimme Online Award schon schwer, aber vereint in einem Wettbewerb kann ich mir das auch als phantasiebegabter Mensch nicht vorstellen. Andersherum ist es auch nicht gerecht, wenn man beispielsweise eine riesengroße Serienproduktion neben eine Website von einem Einzelkämpfer stellt. Das ist einfach zu disparat.
Wo seht Ihr die größten ästhetischen Treiber am Werk, im Netz oder eher im klassischen Bewegtbildbereich? Oder ganz woanders?
Shahrzad Golab: Ich glaube, das beeinflusst sich gegenseitig. Kurzformate aus dem Netz wie TikToks oder auch Instagram Reels beeinflussen die Fernsehangebote von klassischen Medienmacher*innen in Hinblick auf Ästhetiken und Erzählstrukturen, gerade im Bereich Kinder und Jugend. Gleichzeitig glaube ich, dass die Fernsehangebote auch zurückwirken, einfach weil sie noch Wahrnehmungsmuster prägen und ein Stück weit definieren, was Professionalität bedeutet. Deswegen denke ich, es ist ein Geben und Nehmen – ich könnte gar nicht sagen, wer genau der Treiber ist für Veränderungen.
Michael Schwertel: Gleichzeitig liefert „HYPECULTURE“ ein gutes Beispiel dafür, wie Netzinhalte ins Fernsehen geschwappt sind und sich hier verewigen. Umgekehrt zeigt z.B. „Neue Geschichten vom Pumuckl“, was klassische Medienmacher*innen zu leisten vermögen, einfach eine ganz exzellente Gestaltung hinsichtlich der Stimme, der Animation, des handwerklichen Filmemachens allgemein. Für mich ist das ganz großes Kino und wäre als unabhängige Produktion „im Netz“ so nicht durchführbar gewesen, weil einfach die Budgets nicht da sind. Und vielfach auch das Handwerk nicht.
Wird Künstliche Intelligenz (KI) hier für weitere Veränderungen sorgen?
Michael Schwertel: Mit Sicherheit! Gerade die Kreativen im Netz profitieren davon, weil Budgets nicht mehr so eine Rolle spielen. KI-Technik macht vieles günstiger. Passend zur Berlinale ist beispielsweise die neue OpenAI-Plattform „Sora“ herausgekommen, ein leistungsfähiger Text-zu-Video-Generator. Er ist nur ein Beispiel dafür, vor welchen Umwälzungen die Bewegtbildproduktion steht. Die nächste Berlinale wird definitiv anders aussehen.
Schon die nächste Berlinale?
Michael Schwertel: Ich hätte damit gerechnet, dass diese Technik in zwei Jahren kommt, vielleicht sogar noch später. Aber die KI-basierte Technik hat sich in einem Bruchteil der Zeit entwickelt, es geht immer schneller. Die Kreativen haben dadurch die Möglichkeit, deutlich unabhängiger vom Budget ihre Visionen umzusetzen. Und wenn man allein auf die KI-Tools schaut, die wir jetzt schon haben, wie sehr die den Schnitt, das Sounddesign, Color Grading und so weiter verändert haben … da können „Rucksackproduzent*innen“ plötzlich Qualitäten erzeugen, die früher das zehnfache an Budget voraussetzten. Auch mit kleinen Budgets lassen sich exzellente KI-Bewegtbilder generieren, und das bereits morgen und nicht in ferner Zukunft. Das sage ich auch vor meinem Erfahrungshintergrund als Animationsfilmer. Die Revolution ist in vollem Gange!
Shahrzad, Du hast unter anderem bereits an dem großen mehrteiligen Storytelling-Podcast „Dark Avenger“ mitgearbeitet. Wie schaust Du auf das Storytelling im Bewegtbildbereich? Und siehst Du hier Veränderungen?
Shahrzad Golab: Zunächst einmal hat man hier neben dem Sound mit dem Bewegtbild eine weitere Ebene zur Verfügung, die es adäquat zu nutzen gilt. Aber im Grunde sind die Unterschiede nicht so groß, wie man zunächst meint. Letztendlich geht es immer darum, Informationen zu vermitteln und Geschichten zu erzählen. Und das ist abhängig von der Zielgruppe, vom Kontext, in dem man sich bewegt, oder auch vom Format. Die „Dramaturgie“ muss einfach funktionieren: Wie erkläre ich etwas, welche Infos stelle ich voran, wie ist meine Struktur und wie spreche ich mein Publikum an? Und das unterscheidet sich gar nicht so stark zwischen Audio, Video oder auch geschriebenen Reportagen. Storytelling ist ja eigentlich die Grundlage von allem und ziemlich universell. Und dann ist da natürlich die Frage, wie man seine Infos verpackt und wie man sie interessant, unterhaltsam, aber eben möglichst auch lehrreich gestaltet. Und genau das müssen die Bewegbildformate beim Grimme-Preis ja auch leisten. Wer das einmal gemacht hat, wer sich intensiv damit beschäftigt hat, kann und wird diese Strukturen auch in Bewegbildformaten erkennen und kann sie daher auch beurteilen. Deswegen war es gar nicht so anders im Endeffekt. Sehe ich hier Veränderungen? Ja und nein, netzbedingt verkürzen sich im Bewegtbildbereich Geschichten, über TikToks und Reels haben wir ja schon gesprochen. Aber andererseits ist im Netz mehr Platz und ich spüre auch im Fernsehbereich eine Lust an komplexen, ausufernden Stoffen. Man denke nur mal an die Präsenz der Serien im Wettbewerb, die teilweise über mehrere Figuren und Zeitzonen hinweg erzählen.
Stichwort „Zeitzonen“: Der Grimme-Preis wird 60 in diesem Jahr. Anlass genug, einmal zurückzublicken, aber auch nach vorne: Wie haben sich die Qualitätsmaßstäbe verändert? Und wie werden sie sich in Zukunft verändern (müssen)?
Michael Schwertel: Gerade erst hatten wir noch eine Handvoll Programme, dann kamen die Privaten, jetzt die Streamingdienste und die sozialen Netzwerke. Da kommt einfach eine Masse an Content auf uns zu – im Bewegtbildbereich und darüber hinaus. Die Frage ist, wie wir aus dem Übermaß an Angeboten die Qualität herausfiltern können, die für uns dann relevant ist. Ich glaube, dass es gerade in solchen Zeiten noch wichtiger ist, eine Kompassnadel – wie das Grimme-Institut – zu haben, die deutlich macht: Wo steckt denn Qualität drin und was kann ich vielleicht vernachlässigen?
Shahrzad, wie siehst Du das?
Shahrzad Golab: Das ist natürlich eine Riesenfrage. Ich glaube mit dem Blick auf die Zukunft müssen wir uns auf jeden Fall dazu Gedanken machen, was (journalistische) Qualität eigentlich heißt, und für wen? Und gerade mit Blick auf KI stellt sich die Frage: Was ist überhaupt wahr? Welche Bilder stimmen und welche Informationen stimmen – was ist Fake? Ich glaube, das allein wird schon zur Herausforderung. Abseits dessen bin ich sehr froh darum, dass sich unser Verständnis von (journalistischer) Qualität auch weiterentwickelt. Beispielsweise hat sich in den letzten zehn Jahren schon massiv verändert, dass Menschengruppen in den Medien auftauchen, die vorher einfach nicht gesehen wurden und unterrepräsentiert waren. Gleichzeitig gibt es immer noch viele Menschen in Deutschland, die sich politisch abgehängt fühlen – etwa, wenn wir uns das Thema Armut anschauen. Trotzdem habe ich noch Hoffnung, dass sich diese Sensibilität für bestimmte Gruppen und Themen weiterentwickeln und mitwachsen wird.
Habt Ihr das Gefühl, dass Euch die Arbeit in der Grimme-Preis-Jury schon verändert hat?
Shahrzad Golab: Ich finde es immer hilfreich, wenn es frische Blicke auf Inhalte gibt. Daher kann ich auch anderen Gremienmitgliedern nur empfehlen, das mal auszuprobieren – gerade dort, wo es Überschneidungen gibt zwischen online und linear, wie in der Kategorie Kinder und Jugend. Es schärft einfach den Blick.
Das Interview führte Lars Gräßer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Pressesprecher des Grimme-Instituts.